Suche
Suche Menü

Warum schweigt die Mehrheit?

Ein Kapitel (Zitat) aus dem Spiegel-Bestseller von Ulrich Teusch.

(Seite 48ff)

Der Versuch einer Erklärung, warum die Mehrheit schweigt (und eine kleine Minderheit spazieren geht).

Aus dem Klappentext:
Die CORONAKRISE hat in vielen Menschen ein bisher unbekanntes Gefühl ausgelöst: POLITISCHE ANGST. Sie ist ein äußerst effektives Herrschaftsmittel. Das ist spätestens seit Hobbes und Machiavelli bekannt. Doch warum lassen sich Menschen überhaupt (und so leicht) ängstigen? Warum geben die meisten von ihnen dem Druck immer wieder nach? Warum opfern sie ihre individuelle Freiheit allzu oft einer trügerischen Sicherheit? Wer von Angst überwältigt wird, kann nicht frei sein. POLITISCHE ANGST unterhöhlt den Rechtsstaat und die Demokratie. In der CORONAKRISE ist dies durch den repressiven, Angst erzeugenden staatlichen Zugriff auf Individuen und Gesellschaft vielen Menschen bewusst geworden. Ulrich Teusch zeigt, wie wir die Methoden der Angsterzeugung erkennen, uns schützen und wehren können.

Hier veröffentlichen wir eine Textprobe aus seinem neuen, 2021 im WESTEND Verlag erschienenen Buch.

Von der Vernunft im Stich gelassen – der politische Mythos

In verzweifelten Lagen, schrieb Ernst Cassirer, suchen die Menschen Zuflucht zu verzweifelten Mitteln. Das gilt nicht nur für individuelle, sondern auch für gesellschaftliche Lagen, also für Krisenperioden, in denen die scheinbar zuvor fest verankerte Rationalität politischen Handelns abdankt zugunsten von Mythos und Magie.

Man sagt ja gerne: Der zivilisatorische Firnis selbst fortgeschrittener Gesellschaften sei dünn, man müsse immer mit dem Ausbruch von Irrationalität und Barbarei rechnen. So sieht es auch Cassirer. Unterschwellig, so seine These, existiert eine dämonische, mythische Organisation der Gesellschaft. In ruhigen und friedlichen Zeiten, in Perioden relativer Stabilität und Sicherheit, wird sie von einer vernünftigen Ordnung überlagert. Doch in der Politik ist dem Frieden nie zu trauen. Die Verhältnisse sind nicht statisch, sondern labil. Die Folge:

„Wir müssen auf abrupte Konvulsionen und Ausbrüche vorbereitet sein. In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher. In diesen Momenten ist die Zeit für den Mythus wiedergekommen. Denn der Mythus ist nicht wirklich besiegt und unterdrückt worden. Er ist immer da, versteckt im Dunkel und auf seine Stunde und Gelegenheit wartend. Diese Stunde kommt, sobald die anderen bindenden Kräfte im sozialen Leben des Menschen aus dem einen oder anderen Grunde ihre Kraft verlieren und nicht länger imstande sind, die dämonischen mythischen Kräfte zu bekämpfen.“

So kann sich zum Beispiel ein kollektiver Wunsch Bahn brechen, der im Extremfall im Ruf nach einem Führer kulminiert und alle früheren sozialen Bindungen – etwa die rechtsstaatlichen Regelungen und Sicherungen – außer Kraft setzt. Der zivilisierte Mensch, obwohl zur Rationalität erzogen, kann sich den heftigsten Leidenschaften und irrationalsten Impulsen hingeben. Dies war die große, erschütternde Erfahrung Cassirers und vieler anderer, die den totalitären Regimes der 1930er und 40er-Jahre nichts abgewinnen konnten. Das Merkwürdige, Paradoxe bei alledem: „Um zu glauben, muss er [der moderne, zivilisierte Mensch, U.T.] „Gründe“ für den Glauben finden; er muss eine ‚Theorie‘ aufbauen, um seinen Glauben zu rechtfertigen. Und diese Theorie wenigstens ist nicht primitiv; sie ist im Gegenteil höchst durchdacht.“

Der moderne Mensch glaubt nicht mehr an eine natürliche Magie – etwa die Beschwörung der Natur, um bestimmte kollektive Wünsche zu realisieren. Wohl aber glaubt er an „soziale Magie“. Und hier liegt denn auch der fundamentale Unterschied zwischen den klassischen Mythen und dem modernen politischen Mythos. Während traditionellerweise der Mythos als „das Ergebnis einer unbewussten Tätigkeit und als freies Produkt der Einbildungskraft“ verstanden wird, ist der moderne politische Mythos ein Konstrukt, etwas Künstliches, „von sehr geschickten und schlauen Handwerkern erzeugt“.

„Es blieb dem zwanzigsten Jahrhundert, unserem eigenen großen technischen Zeitalter, vorbehalten, eine neue Technik des Mythus zu entwickeln. Künftig können Mythen im selben Sinne und nach denselben Methoden erzeugt werden, wie jede andere moderne Waffe – wie Maschinengewehre oder Aeroplane. Das ist etwas Neues, und etwas von entscheidender Bedeutung. Es hat die ganze Form unseres sozialen Lebens geändert.“

So waren die vom Nationalsozialismus erzeugten Mythen bereits lange vor dessen Machtübernahme in vielen Köpfen verankert. Zunächst hatte da also eine „geistige Aufrüstung“ stattgefunden, und erst danach – seit 1933 – wurde eine militärische Aufrüstung betrieben. Die eine war Voraussetzung der anderen.
Die modernen politischen Mythen sorgten nicht nur für eine Umwertung aller ethischen Werte. Sie bemächtigten sich auch der Sprache. Das magische Wort gewann die Oberhand über das semantische Wort. Es wurden neue Worte geprägt und alte Worte in einem neuen Sinn verwendet, einem Bedeutungswandel unterzogen.

„Dieser Bedeutungswandel folgt aus der Tatsache, dass jene Worte, die früher in beschreibendem, logischem oder semantischem Sinne gebraucht wurden, jetzt als magische Worte gebraucht werden, die bestimmt sind, gewisse Wirkungen hervorzubringen und gewisse Affekte aufzurühren. Unsere gewöhnlichen Worte sind mit Bedeutungen geladen; aber diese neugeformten Worte sind mit Gefühlen und heftigen Leidenschaften geladen.“

Was die Worte charakterisiert, ist demzufolge nicht ihr Inhalt und ihre objektive Bedeutung, sondern die sie umhüllende emotionale Atmosphäre. Diese kann man nur fühlen, aber nicht übersetzen, nicht aus einem geistigen Klima in ein anderes übertragen: Corona-Leugner, Abstandsgebot, Ausgangssperre, Maskenpflicht, Lockdown, Inzidenz, Test-Regime, Impfverweigerer, Notbremse …

Doch es ist nicht allein die Sprache. Dort, wo Systeme offen totalitär verfahren (oder sich in eine totalitäre Richtung bewegen), wird die Indienstnahme der Sprache von besonderen öffentlichen Ritualen begleitet. Ohne diesen beim Namen zu nennen, kommt Cassirer auf den „deutschen Gruß“ zu sprechen. Also jenes „Heil Hitler“, das mit schräg nach oben gestrecktem rechtem Arm und flacher Hand (auf Augenhöhe) einherging, aber auch im Schriftverkehr, insbesondere dem amtlichen, eine verbreitete und zum Teil obligatorische Grußformel war, der man sich so gut wie nicht verweigern oder entziehen konnte.

Ich will die Analogien zwischen den gegenwärtigen deutschen Verhältnissen und jenen der beginnenden NS-Zeit keinesfalls überstrapazieren. Doch die von Cassirer am Beispiel des Hitlergrußes beschriebenen Mechanismen scheinen mir doch jenen sehr zu ähneln, die wir im Alltag der Jahre 2020/21 erleben und beobachten können: Zutritt (ob in die Schule, den Laden, das Museum) hat nur, wer Maske trägt, seiner Testpflicht nachkommt, seine Impfbescheinigung vorweisen kann. Maske, Test, Impfung als Bedingung der sozialen Integration oder Desintegration – zu grüßende Geßlerhüte, zu befolgende Rituale, gleichermaßen gültig für Groß und Klein.
Die Rituale der NS-Zeit waren Cassirer zufolge ebenso regelmäßig, streng und unerbittlich wie die in primitiven Gesellschaften. Der Gang über die Straße, das Grüßen des Nachbarn oder des Freundes waren nur möglich, wenn man ein politisches Ritual vollzog. Wer sich dem vorgeschriebenen Ritus widersetzte oder ihn nur nachlässig befolgte, konnte sich Ärger einhandeln. Selbst kleinen Kindern ließ man diesbezüglich nichts durchgehen.

„Die Wirkung dieser neue Riten ist offenkundig. Nichts ist besser imstande, all unsere Kräfte in Schlaf zu lullen, unsere Urteilskraft und Fähigkeit kritischer Unterscheidung, unser Gefühl für Persönlichkeit und individuelle Verantwortung hinwegzunehmen, als die ständige, uniforme und monotone Vollziehung der gleichen Riten. Tatsächlich ist in allen primitiven Gesellschaften, die von Riten gelenkt und beherrscht werden, individuelle Verantwortung eine unbekannte Sache. Was wir hier finden, ist nur eine kollektive Verantwortung.“

Die von Cassirer beschriebene soziale Hypnose hat auch solche Menschen nicht verschont, die angesichts ihrer Erfahrungen, ihrer charakterlichen und intellektuellen Voraussetzungen in der Lage hätten sein müssen, den Spuk zu durchschauen. Auch sie sind ins Netz gegangen und haben das „höchste menschliche Privileg“ aufgegeben:

„Sie haben aufgehört, freie und persönlich handelnde Menschen zu sein. Indem sie dieselben vorgeschriebenen Riten vollziehen, beginnen sie, auf die gleiche Weise zu fühlen, zu denken und zu sprechen. Ihre Gesten sind lebhaft und heftig; aber dies ist bloß ein künstliches, ein Scheinleben. Tatsächlich werden sie durch eine äußere Kraft in Bewegung gesetzt. Sie handeln wie Marionetten in einem Puppenspiel – und sie wissen nicht einmal, daß die Fäden dieses Spiels und des ganzen individuellen und sozialen Lebens des Menschen von nun an von den politischen Führern gezogen werden.“

Zwang und Unterdrückung kennzeichnen das politische Leben seit jeher. Doch in der Regel hatten die Herrschenden es nur auf materielle Ergebnisse abgesehen. Sie zwangen die Menschen, in dieser oder jener Weise zu handeln. Aber sie kümmerten sich nicht um ihre Gefühle, Urteile, Gedanken.
Ganz anders verfuhren die modernen politischen Mythen. Statt dem Menschen bestimmte Handlungen abzufordern oder sie ihm zu verbieten, trachteten sie danach, den Menschen als solchen zu verändern, damit dieser so handelte, wie sie es sich vorstellten. Sie erzeugten zum Beispiel Bedrohungsgefühle, sie schürten Angst, um die Beherrschten emotional zu packen, sie gefügig zu machen. Dann bedurfte es keinen brutalen Zwanges mehr. Die Menschen waren derart umprogrammiert, dass sie ohne sonderlichen Druck konform handelten. Moderne Politiker wissen, dass man große Menschenmassen leichter durch die Gewalt der Einbildung als durch physische Gewalt bewegen und steuern kann. Und von diesem Wissen haben sie ausgiebig gebrauch gemacht.

„Die politischen Mythen handelten auf dieselbe Weise wie eine Schlange, die versucht, ihre Opfer zu lähmen, bevor sie angreift. Die Menschen fielen ihnen zum Opfer ohne jeden ernsten Widerstand. Sie wurden besiegt und unterworfen, bevor sie sich klar gemacht hatten, was eigentlich geschah.“

Auch hier liegt die Analogie zur Jetztzeit offen zutage. Die drastischen Eingriffe ins öffentliche und private Leben, die Einschränkungen von Grundrechten, ihre Suspendierung – all das hat keine wütenden Proteststürme hervorgerufen. Vielmehr hat es die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in Schockstarre versetzt oder ist von dieser mit Gleichmut und stiller Zustimmung getragen worden, jedenfalls weitgehend ungestört über die Bühne gegangen. Selbst unter scharfen Kritikern der „Maßnahmen“ scheint kaum jemand zu bezweifeln, dass die Krise irgendwann zu Ende gehen wird und wir unsere Grundrechte vollumfänglich „zurückerhalten“ werden.

Was Cassirer mit Blick auf den Nazismus geschrieben hat, ist auch heute bemerkenswert:
„Die gewöhnlichen Mittel politischer Unterdrückung würden nicht ausgereicht haben, um diese Wirkung hervorzubringen.“

Hat Dir der Textausschnitt gefallen? Das Buch von Ulrich Teusch ist im Verleih des KV der Partei dieBasis. Einfach an einem Montag Abend beim dieBasis-Treffen anfragen!